Wolfgang Heinig: ein ganz großer Trainer

Da stand er nun mit Blick auf rund 70 Persönlichkeiten des deutschen Laufsports und rang im Überschwang seiner Gefühle um Worte: „Ich bin erschlagen, was soll ich sagen?“, äußerte Wolfgang Heinig mit belegter Stimme und gab sich Mühe, die Tränen der Rührung zu verdrücken. Geboren am 27. Juli 1951 im sächsischen Torgau, gilt Heinig als seit Jahren erfolgreichster deutscher Lauftrainer nicht nur wegen der überragenden Leistungen von Gesa Krause. Seit 50 Jahren sind mehrere Generationen deutscher Topathletinnen und -athleten durch Heinigs Schule gegangen. Deshalb waren Dutzende von ihnen am vergangenen Samstag teilweise von weit her in die Zentrale des Deutschen Olympischen Sportbundes in die Frankfurter Otto-Fleck-Schneise gekommen, um dem 74-Jährigen ihre Ehre zu erweisen. Selbstverständlich dabei Gesa Krause und Olivia Gürth, die beiden Ausnahmekönnerinnen des Vereins Silvesterlauf Trier.
Wolfgangs Frau Katrin und beider Tochter Katharina hatten die Feier erfolgreich zur geheimen Kommandosache gemacht. Alle Gäste, die teilweise bereits mehr als ein halbes Jahr zuvor informiert worden waren, hielten dicht. Wolfgang ahnte nichts. Sein Freund Michael Siegel, Leiter der Akademie des Deutschen Leichtathletikverbandes (DLV), hatte Wolfgang zu einem vermeintlichen Vortrag vor Trainern anderer Sportarten in die DOSB-Zentrale eingeladen. Thema: Höhentraining. Wolfgang Heinigs Spezialgebiet. Die ersten Worte, die er fand, nachdem er seine Gefühlswelt im Anblick der vielen Wegbegleiter vergangener Jahrzehnte wieder in den Griff bekommen hatte: „Dann hätte ich mir die Vorbereitung auf den Vortrag ja sparen können …“
Den Vortrag wird es bei anderer Gelegenheit ja vielleicht doch noch zu hören geben. Stattdessen blühte am Samstag in der Frankfurter DOSB-Zentrale und später an der Hotelbar der Flachs. Schoten aus 50 Jahren. Die Zeit von nachmittags bis tief in die Nacht reichte nicht, um alle zu erzählen. An dieser Stelle nur eine davon. Eine mit historischer Dimension. Nagoya-Marathon 1986, also noch ziemlich zu Beginn der großen internationalen Karriere der Katrin Dörre, Wolfgangs Topathletin (u.a. Olympiadritte 1988) und dann auch großer Liebe, die bis heute hält.
„Ich hatte in meinem Leben zuvor noch nie Dollarnoten im Original gesehen“, begann Wolfgang seine Schilderung. Nach Katrins Sieg sei er dann von den Organisatoren in ein Hinterzimmer gebeten worden. „Der Japaner hatte drei Koffer dabei und öffnete diese nacheinander. Im ersten: 15.000 US-Dollar. Das Antrittsgeld, sagte der Japaner. Im zweiten: Noch mal 15.000 US-Dollar. Die Siegprämie, sagte der Japaner.“ Wolfgang Heinigs Augen wurden immer größer, keine Ahnung hatten Katrin und er, dass auch damals schon bei den großen Straßenläufen Geld zu verdienen war. Von “appearance money” nie was gehört. Seine Erinnerung: „Im dritten Koffer: weitere 15.000 US-Dollar. Die Prämie für den Streckenrekord, sagte der Japaner.“ Wolfgangs Freudetrunkenheit war von kurzer Dauer, denn unglücklicherweise war auch der Stasi-Mann mit in den Raum gebeten worden. Wie selbstverständlich nahm er die Koffer mit. Devisen für den Staatshaushalt, dessen Investitionen in den Spitzensport bekanntlich nicht gerade gering waren. Was blieb der Athletin und dem Trainer: kein Cent.
„Sehr vieles im DDR-Sport war gut“, sagt Heinig dennoch: „Wir brauchten uns um nichts Organisatorisches zu kümmern, Trainingslager und Reisen waren finanziert.“ Trotzdem war seine erste Reaktion nach dem Vorkommnis von Nagoya mehr als verständlich: „Ich habe zu Katrin gesagt, jetzt reicht es. Lass uns rübermachen.“ Sie machten nicht rüber, um nicht Repressalien gegen Verwandte zu riskieren. Die Auszeichnung “Meister des Sports”, verliehen von oberster Stelle der Regierung und höchste Anerkennung im DDR-Sport, macht ihn unverändert stolz. Inzwischen trifft der Titel mehr denn je zu. Eines seiner wertvollsten Meisterwerke ist die Karriere von Gesa Krause. Die 33-Jährige, die 2026 ihre zehnte Saison im Verein Silvesterlauf Trier bestreitet, wurde in ihrer Karriere je zweimal Europameisterin und WM-Dritte im 3000-Meter-Hindernislauf. Aktuell gilt Heinigs Fokus Gesas Marathondebüt am 7. Dezember in Valencia.
Schwarz-weiß-Denken war und ist Wolfgang Heinig fremd. In der Trainerschaft ist er wegen seiner direkten, rustikal-ehrlichen Art alles andere als „everybody’s darling“, eckt auch schon mal an. Von seinen Athleten verlangt er viel, ist in vielerlei Hinsicht kompromisslos. Das Fundament seiner Lebensleistung liegt in der erstklassigen Trainerausbildung an der DHfK Leipzig, er selbst beschreibt seinen Führungsstil sehr treffend „mit Verständnis, mit Einfühlungsvermögen, aber auch mit Härte“. Spitzensport ist eben kein Ponyhof.
Unter seinen ehemaligen Athleten, die persönlich gekommen waren, um Wolfgang Heinig diesen Samstag in Frankfurt unvergesslich zu machen, war auch Richard Ringer. Fast nur Insider wissen, dass der Marathon-Europameister von 2022 eine Weile bei Heinig trainierte. Namhafte Athleten, die nicht nach Frankfurt kommen konnten, gratulierten per Videobotschaft: Der einstige Weltklasse-Straßenläufer Carsten Eich, der 1993 unter Heinigs Fittichen Halbmarathon-Europarekord (60:34) gerannt war, fehlte wegen einer wichtigen Familienfeier. Red-Bull-Konzernchef Oliver Mintzlaff, als großer Fighter um die Jahrtausendwende in Erinnerung, gratulierte aus den USA.
Für Wolfgang Heinig ist die Läuferwelt seit dem Wochenende wieder völlig im Lot. Am 1. August, als seine erste Anstellung als Trainer sich zum 50. Mal jährte, und in den Wochen danach hatte er hier und da keinen Hehl aus seiner Enttäuschung gemacht, dass die Zahl der Gratulanten überschaubar ausfiel. Seit Samstag weiß er warum.


